Redner, Rentner und Radler

Hausbesuch bei Rüdiger Tauer in Neu-Paunsdorf (Foto: Regina Katzer)

Willkommen im Leipziger Osten: Am Eingang des sechsgeschossigen Mehrfamilienhauses im Neubaugebiet Neu-Paunsdorf erwartet mich Rüdiger Tauer. Als Kavalier der alten Schule hält er mir die Tür auf und bittet mich, in der Küche Platz zu nehmen. Wortgewandt und sehr gesprächig präsentiert sich der 69-jährige Rentner, der seit 36 Jahren als Büttenredner im „Grünauer Garnevals Glub“ (GGG) agiert.

Schlosser, Tramper und Karnevalist

In Plaußig geboren, kam er als Steppke im Alter von sechs Jahren nach Leipzig-Marienbrunn. Der Vater war Lokführer und so durfte die Familie mit den zwei Söhnen eine Wohnung in der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft (AWG) „Transport“ beziehen. Nach der zehnten Klasse lernte er im VEB Mihoma den Beruf des Maschinenbauers. Mit einem guten Abschluss ging es für den jungen Mann zur Reichsbahn. „Mit Anfang 20 gutes Geld in der Tasche zu haben, war ein Grund für mich, jahrelang auf Montage zu gehen“, schaut der Leipziger zurück. Tagsüber schuftete er bei Gleisbauarbeiten. Ein alter Kollege motivierte ihn und ermutigte ihn, auch dann weiterzumachen, wenn es schmerzte. Abends schlief er nach einem anstrengenden Tag im Wohnwagen, fernab von der Familie. Nach dem Armeedienst zog er in eine kleine Wohnung in Gaschwitz. Rüdiger Tauer wurde für ein Jahr Rangierer. „Die Innenwände des Hauses, das aus dem Jahr 1928 stammte, waren aus Schlackenstein. So hellhörig hatte ich noch nie gewohnt“, plaudert der Mann schmunzelnd. Und obwohl er als Mitarbeiter der Reichsbahn einen Freifahrtschein hatte, trampte er am liebsten per Anhalter durch die Gegend. Er lernte Leute aus dem sozialistischen Ausland kennen, die er auch nach der Wende besuchte und mit einigen pflegt er bis heute Freundschaften. Nach zwei schweren Unfällen ließ er seinen gefährlichen Job sausen und suchte sich was Neues.

Im Institut für Bergbausicherheit wurde der Schlosser dann fündig. Auch neue vier Wände konnten in der AWG „Kontakt“ bezogen werden. Er erinnert sich: „Die Ingenieure bekamen die Drei- und Vierraum-Wohnungen, wir Arbeiter die Einraum-Wohnungen.“ Seine Frau war gerade schwanger, als sie sich in der Platte in Schönefeld einrichteten. Erst Jahre später bekam die Familie eine größere Wohnung in Leipzig-Grünau. „Weil ich früher nur Eisen in den Händen hatte, war ich irgendwie von frisch gesägtem Holz fasziniert.“ Vitamin B und Wochenendarbeit beschafften ihm Holzplatten – damit verkleidete er Wände und baute Zwischendecken ein. Aus Holzabfällen schnitzte er Küchenbrettchen, die er noch immer benutzt.

Grünau Helau

Eine Silvesterparty im „Lindenhof“ in Grünau war wegweisend für sein Engagement im Karneval. Die Garderobenfrau suchte Männer für einen Elferrat, die die 0815-Faschingsveranstaltungen aufmischen und neuen Wind hereinbringen sollten. Gesagt, getan: Und so war Rüdiger Tauer am 10. Januar 1982 Gründungsmitglied des legendären „GGG“, dem er noch heute angehört. „Meine erste Bütt dauerte ungefähr zehn bis zwölf Minuten. Ich sprach die Probleme der Grünauer in ihrem Viertel an und war danach der Held“, strahlt der symphatische Bewohner, der auch im Seniorenkabarett „Die Spottvögel“ zu erleben ist.

Gemütlichkeit in 360 Grad

Neuanfang in Neu-Paunsdorf

Obwohl alle seine Freunde in Grünau wohnen, zog der radsportbegeisterte Rentner mit dem grauen Zopf im Jahr 1992 nach Neu-Paunsdorf in eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung. Angefangen hatte er mit gebrauchten und geschenkten Möbeln und einem E-Herd. Die Kollegen der Theaterwerkstatt der Oper Leipzig, in der er die vergangenen 23 Jahre gearbeitet hat, halfen ihm beim Aufpolstern von Stühlen und gaben Tipps zur Restaurierung des antiken Schreibsekretärs, ein Erbstück seines Großvaters. Die Küche ist klein und fein, alles hat seinen Platz – sogar die grünen Ranken unter der Decke. Als die Enkel noch nicht auf der Welt waren, hingen die Blätter zum Boden herab. Als der Kleinste damit spielte, musste improvisiert werden. Seitdem hat die Küche ein grünes Pflanzendach. Wie praktisch.
Im Gästezimmer, in dem der Karnevalist seine Reden schreibt, hütet er Original-Möbel aus der DDR: eine gepflegte Schrankwand von 1974 sowie ein ausklappbares Gästebett. Und am frühen Abend auf dem verglasten Balkon mit einem Buch in der Hand zu sitzen, das mag Rüdiger Tauer besonders.
Darauf ein dreifaches Grünau Helau!

 

Ein Gedanke zu „Redner, Rentner und Radler“

  1. Toll, was du alles gemacht und geschafft hast. Nun bist du Rentner, genau, wie ich. Kennengelernt haben wir uns, glaube ich mit 19,in Glowe auf Rügen.

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