Die Anreise zu meinem heutigen Gastgeber dauert knapp eine Dreiviertelstunde – ich nehme die Autobahn von Leipzig nach Sachsen-Anhalt ins 50 Kilometer entfernte Bitterfeld, wo mich Jochen Stammnitz mit einem ganz persönlichen Willkommensgruß auf einem Aufsteller empfängt. Das Häuschen, in dem er mit Ehefrau Ruth seit 18 Jahren lebt, liegt in einer Einfamilienhaussiedlung. Und hinter der Eingangspforte offenbart sich ein ganz besonderes Fleckchen Erde – sein „Lost Garden“, wie der 66-Jährige das grüne Paradies nennt.
Nostalgie im Grünen
Der historische Garten im viktorianischen Stil mit Tausenden Rosenblüten besticht durch symmetrische Sichtachsen, einem zehn Meter großen Rondell mit einer nachgebauten Brunnen-Skulptur, einem Knotenbeet nach englischem Vorbild, vielen verspielten Details und romantischen Sitzgelegenheiten unter den zahlreichen Pflanzendächern. Eine 120 Jahre alte Bank mit Jugendstil-Ornamenten stammt vom Dommitzscher Friedhof, die Josta, wie er von den Freunden genannt wird, gegen eine neue eingetauscht hat. „Ich lass Dinge in Würde altern, die sonst weggeschmissen worden wären. Fast jeder Sperrmüll ist ein Fundort für mich“, erzählt der Familienvater. Getreu seinem Motto: „Sammelnd lebe der Mensch.“ Eine Sensation ist eine kleine Ausgrabungsstätte – abgedeckt von einer begehbaren Glasplatte, die extra angefertigt wurde. Unter meinen Füßen liegen historische Brandsteine aus dem Siebenjährigen Krieg, der im 18. Jahrhundert auch in Wittenberg wütete.
Drehort fürs Fernsehen
Flotten Schrittes geht es weiter durch die grüne Oase, die schon in so einigen Gartenzeitschriften für Furore sorgte. Auch der Mitteldeutsche Rundfunk wurde auf das Kleinod aufmerksam und war vor neun Jahren für die Samstagabendshow „Gartenwunderland“ mit 35 Leuten einen ganzen Tag vor Ort. „Sie haben einen Kran aufgebaut, um hier mit den Musical-Stars Marjan und Lukas zu drehen.“ Der Rentner erinnert sich noch an den Titel, der in den Charts lief, und trällert flugs drauf los: „Ich brauch’ nur Luft und Liebe.“
Kitsch und Kunst
Während seine Ruth eher der minimalistische Typ sei, gibt es für Josta keinen Kitsch, den er nicht neu arrangiert und so eine Art Gegenspieler zum historischen Teil des Gartens schafft. Ein Kronleuchter baumelt unterm Sternenhimmel und auf der blauen Laube steht eine bunt verpackte Wanne, die früher auf der Wiese stand und die drei Enkelkinder zum Planschen animierte.
Jochen Stammnitz stammt aus dem nordsächsischen Belgern und kam als 16-jähriger Leistungssportler nach Leipzig. Er wohnte im Internat der Sportschule und sammelte als 400-Meter-Hürdenläufer damals Medaillen. Vorm Studium an der Deutschen Hochschule für Körperkultur wurde er zur Armee eingezogen. „Wer sein Kochgeschirr nicht richtig sauber machte, kam ins Gefängnis“, berichtet er und zeigt auf einen alten Vogelkäfig mit einer eingesperrten Putte vorm Haus. Eine Theaterleuchte um die Ecke erinnert an Europas ehemals größte Filmfabrik, in der 1936 weltweit der erste Farbfilm produziert wurde. „Aus Agfa wurde später Orwo Wolfen, keine vier Kilometer von hier entfernt“, weiß Stammnitz, der sich für Kunst- und Regionalgeschichte interessiert.
Überall, wo man hinschaut, wächst und klettert der Efeu durchs Gartenreich, umgarnt Objekte oder deckt sie manchmal einfach zu. Hinter einer Hecke am Eingang blinzelt nur noch das Vorderrad eines Drahtesels hervor. Josta schnappt sich kurzerhand die elektrische Heckenschere und knattert drauf los – und befreit das Fahrrad vor meinen Augen von den Grünpflanzen. Live ist Life – was für eine Performance!
Bis bald, Josta
An den Wänden des großen Wohnhauses rankt indes der wilde Wein und schmückt die Herberge des Ehepaares, das seinen Auszug in den nächsten fünf Jahren plant. Und bevor ich mich verabschiede, gibt es noch eine Stippvisite im dreistöckigen Haus mit seinen über 1000 Kunstwerken an den Wänden, einem geheimnisvollen Zimmer und viel Historie unterm Dach. Ich werde wohl bald wiederkommen, um weitere spannende Geschichten zu erfahren. Versprochen!
Ein herrlich bunter Garten!