Hauptsache ein Dach überm Kopf

Zu Besuch bei den Obdachlosen hinterm Hauptbahnhof (Foto: Regina Katzer)

Im September, nach einem Friedensgebet in der Nikolaikirche, lernte ich Jürgen, einen Mann in Zimmermannskluft, kennen. Diese Woche folgte ich seiner Einladung zum Hausbesuch auf der Preußenseite des Leipziger Hauptbahnhofes. Hier, im Zentrum-Ost, haben sich zwölf Obdachlose in einem zweigeschossigen Gebäude eingerichtet, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Dass der Eigentümer eine Räumung angekündigt hat, schwebt wie ein Damoklesschwert über ihnen. Unterstützt werden die Wohnungslosen von den Stadtratsfraktionen der Grünen und Linken, die nach einer einvernehmlichen Lösung suchen.

Wohngemeinschaft G3

Das denkmalgeschützte Haus in der Güterstraße 3 (G3) ist seit März dieses Jahres ihr Zuhause, allerdings ohne fließend Wasser, Strom und Heizung. „Die derzeit warme Witterung spielt uns in die Karten“, sagt der Mann mit dem Ohrring. Das G3 soll Vereinshaus werden – der Punkwerkskammer e.V. (PWK) ist bereits gegründet und ein Konzept zur Nutzung des gesamten Geländes auf der Westseite des Hauptbahnhofes entsteht. Kevin, ein 30-jähriger Punk, ist Vorstandsmitglied und technischer Leiter des Projekts. Der gelernte Nutzfahrzeugschlosser aus dem Mansfelder Land kennt sich seit zig Jahren in der Heizungs- und Sanitärinstandhaltung aus und leitet die Umbaumaßnahmen im Haus. Zur Seite stehen ihm Zimmerer Jürgen, die Mitbewohner Matze und Bea, Garti und Paule sowie Vereins-Praktikant Michael, der auf dem Außengelände mit anpackt.

Um das Haus einigermaßen bewohnbar zu machen, schleppten die Punks kubikmeterweise Müll aus den Kellerschächten. Die Flure wurden frisch gestrichen und in der oberen Etage sind einige Schlafnischen entstanden – mit Vorhängen abgeteilt, um ein bisschen Privatsphäre zu wahren. Beatrice und ihr Freund Matze teilen sich im Erdgeschoss ein Zimmer.

Sachspenden willkommen

Im Wohnzimmer halten sich die Bewohner am Abend mit ihren Vierbeinern auf – nur zu dieser Zeit wird auch das Notstromaggregat angeschmissen. Und hier schmieden alle gemeinsam Zukunftspläne: Der Verein PWK soll unter anderem Betroffenen Hilfestellung fürs Leben leisten – am besten eine Art Notfall-Hilfe, die sie von der Bahnhofsmission nicht bekommen. „Die dürfen den Obdachlosen nicht mal ein Pflaster auf die Wunde kleben“, sagt Garti, der Punk mit dem Cap. Eine Kleiderkammer ist im Aufbau und jede Sachspende willkommen, vor allem Männerklamotten und Schlafsäcke für den nahen Winter sind gefragt. „Wir freuen uns über jeden, der den Weg zu uns findet“, betont Jürgen.

Seine Bleibe ist nebenan. Der alte Kachelofen funktioniert zwar nicht mehr, aber er ist zufrieden mit seinem Schlafplatz im Trockenen. Und am Abend kocht er manchmal einen Kaffee für die Mädels, erzählt er. Das Wasser schöpfen sie mittels einer kleinen Pumpstation aus der Parthe, die unterhalb des Bahngeländes verläuft. Zum Duschen und Wäschewaschen gehen die Bewohner in die Leipziger Oase, eine Kontaktstube für Wohnungslose der Diakonie. Im Keller gibt’s einen Partyraum, in dem Bea am Vorabend ihren Geburtstag gefeiert hat, und immer mittwochs lädt der Punker-Tresen zum Quatschen ein. Ein großer Saal schließt sich an, der könnte einmal für Veranstaltungen genutzt werden.

Oase hinterm Hauptbahnhof

Das Herzstück ist die „grüne Lunge“ hinterm Haus: Auf einem Rundgang durch einen paradiesischen Dschungel direkt hinter dem Hauptbahnhof schwärmen Kevin und Co., wie sich in Eigenregie die Baracken und das weiträumige Gelände rekultivieren ließen. „Das ist ein Lebensprojekt – hier könnten wir alt werden!“ Kevin, ein alter Hase vom Bau, führt mich von Gebäude zu Gebäude – hier sei alles heruntergewirtschaftet worden, anstatt zu erhalten, sagt er. Allerdings seien die Hallen teilweise noch gut in Schuss, aber das wäre eine Herausforderung für den Verein. Und schon jetzt träumen Jürgen und die anderen von Wohnparzellen mit Garten und viel Grün. Mitten in der City.

 

13 Gedanken zu „Hauptsache ein Dach überm Kopf“

  1. Ich finde es bedauerlich, dass hier jungen Leuten der Floh ins Ohr gesetzt wird, sie könnten im Zentrum von Leipzig gratis auf fremder Leute Eigentum wohnen. Schade um das Herzblut. Das Theater, wenn der Eigentümer kommt und die Gebäude räumt, wird so vorprogrammiert.

  2. Es gefällt mir sehr, dass auf „Unterm Dach“ das Heterogene unserer Stadt dargestellt wird… absolut gelungen, danke dafür und dem Wohnprojekt viel Erfolg

  3. Find ich gut, hoffentlich bleibt der Grüne Fleck hier erhalten! und wird nicht die Größenwahnsinnige Vision des Geldgeilen Grönert(CG Gruppe) in die Tat umgesetzt.

    Viel Erfolg bei der Erhaltung des Kleinod´s mitten im Zentrum

  4. Ergänzend zu fin: Bisher der einzige sinnvolle Beitrag mit einem Blick für Realität. Träumer muss es immer geben, aber bitte nicht zulasten anderer Menschen. Platz ist am Leipziger Stadtrand in kostengünstigem Rahmen verfügbar. Dort können sich die Leute selbst verwirklichen.
    Wann ging dort die Baustelle los? Bis dahin werden sie sicher noch geduldet sein. Mehr Arbeit reinzustecken ist sinnfreie Liebesmüh. Nutzt die Zeit was neues zu finden, denn der Winter wird sicher kälter.

  5. Das an einer einvernehmlichen Lösung gearbeitet wurde, ist der größte Witz an diesem Artikel. Die Stadt Leipzig verfügt sicherlich über genügend freistehende Objekte die sie zur Verfügung stellen könnte. Dann müsste nicht fremdes Eigentum widerrechtlich besetzt werden.

  6. “ Träumer muss es immer geben, aber bitte nicht zulasten anderer Menschen.“

    Der Satz passt super auf Banker und Spekulanten, die durch Nichtstun reich werden. Und andere arm machen. Ich kann nicht so richtig erkennen, welche Menschen durch die Obdachlosen leiden müssen.

  7. Die Einstellung etlicher Leute heutzutage, dass einmal besetztes einem dann selber „gehören“ würde und ansonstens sich doch die Gesellschaft um mich zu kümmern hätte, finde ich erschreckend und anmaßend! Etwas überspitzt formuliert: Wenn der Nachbar sein Auto mal zwei Tage nicht fährt, werde ich es auch einfach „besetzen“ und ihm danach drohen, wenn er es wiederhaben möchte. Etwas anderes ist es m.M.n. beispielsweise bei den Wächterhäusern, dass, solange keine neuen Mieter und/oder Eigentümer vorhanden sind, diese noch im Sinne der Werterhaltung und Vandalismus-Vermeidung VORÜBERGEHEND incl. aller anliegenden Medien (bezahltes Gas, Wasser, Strom etc.) bis auf Widerruf genutzt werden dürfen. Also bitte nicht nur nehmen, sondern auch geben! So funktioniert Gesellschaft.

  8. „Der Satz passt super auf Banker und Spekulanten, die durch Nichtstun reich werden. Und andere arm machen.“

    Da kann ich absolut nicht zustimmen. Denn wenn sie nichts tun – wie werden sie da reich? Könnte da sozusagen nicht jeder reich werden?
    Das hat was mit Wissen zu tun. Zu wissen, wie man wann auf was setzt oder wie man geschickt mit dem Arbeitgeber/Geschäftspartner verhandelt, dass für einem selbst das Optimum rauskommt. Das kann nicht jeder.

    Ich denke auch, dass jeder die Chance hat, was aus seinem Leben zu machen. Bildung ist die Grundlage dafür oder man arbeitet „einfach“ hart. Und ich sage das nicht einfach so, ich kann aus Erfahrung reden – zwar nicht meine, aber von Leuten in meinem Umfeld.

    Zum Thema an sich: Es ist schon sehr schön, sowas zu lesen. Allerdings denke ich auch wie einige hier, dass man nicht fremdes Eigentum belagern sollte. Egal, ob es brach liegt. Es ist einfach zu unsicher, wie lange das Projekt, wo man sein ganzes Herzblut reingesteckt hat, denn noch existiert. Und am Ende fühlt sich das alles an, als wäre es umsonst gewesen.

  9. In Deutschland muss niemand obdachlos sein. Ich finde es verwerflich fremdes Eigentum zu missbrauchen und sich durchzuschmarotzen. Wie kann man bitte solch einen Artikel schreiben und es hinstellen, ob es das Normalste der Welt ist, sich fremdes Eigentum anzueignen! Alle angebotenen Hilfen und Ersatzünterkünfte waren diesen Leuten nicht gut genug! Mitten im Zentrum zu leben, kann sich ein Großteil der hart arbeitenden Bevölkerung Leipzigs nicht leisten. Und die sollen noch spenden?!

  10. Das Unverständnis für Armut und die Zusammenhänge der Marktwirtschaft unter den Kommentaren hier sind doch ganz schön heftig. Genauso wie Banker und Spekulanten nicht „durch Nichtstun reich werden“, so bedeutet ihr Luxus dennoch die Armut anderer. Denn reich kann Einer nur sein, wenn viele Andere arm sind. Der Mythos vom „Tellerwäscher zum Millionär“, wenn mensch nur viel & hart arbeitet, kann niemals von ALLEN erreicht werden.
    Zugleich scheint hier bei mehreren Kommentaren ein höchst befremdliches Bild der funktionierenden sozialen Marktwirtschaft durch, das gerade im Osten erstaunlich ist. „Niemand muss obdachlos sein“? Die angebotenen Hilfen waren „diesen Leuten nicht gut genug“? Es wäre wünschenswert, wenn solch hass- oder neiderfüllte KommentatorInnen sich mal die Zeit nehmen würden, sich tatsächlich mit obdachlosen Menschen über die sogenannten „Angebote“ und die damit verbundenen Restriktionen und Herabwürdigungen zu unterhalten.
    Zuguterletzt steht hier aber auch die Frage im Raum, in was für einer Stadt wir leben wollen. Eine (Innen-)Stadt nur für Reiche? Von wegen „Platz am Leipziger Stadtrand“? Soll Armut in der funktionierenden Stadt abgeschafft werden oder darf sie nur nicht gesehen werden, soll also an den Rand ziehen?
    Es wäre begrüßenswert, wenn die Leute in dem Haus wohnen bleiben können, und mit Perspektive weiter an ihrem Projekt arbeiten können. Dass sie über einen Verein versuchen, das ganze in legalem Rahmen zu gestalten, steht ja bereits in dem Artikel. Sich jetzt darüber aufzuregen, dass das „zu Lasten anderer Menschen“ wäre, wenn das Gebäude seit Ewigkeiten leer steht, entbehrt jeglicher Logik und Blick für die Realität. Und ob die Arbeit, die die Leute da reinstecken, um eine Ruine wieder wohnbar zu machen, „sinnfreie Liebesmüh“ ist, sollten sie selbst entscheiden. Verloren ist dadurch jedenfalls sicher nichts: die Erfahrung der Zusammenarbeit und die Netzwerke, die daraus entstehen, bleiben auch noch lange nach dem Haus bestehen.
    Viel Glück den BewohnerInnen! Macht weiter.

  11. Hallo Aaron,

    ich hoffe, dass sich einige Leute die Zeit nehmen, deine Zeilen zu lesen…

    Schöne Grüße
    Regina

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